Donnerstag, 3. Dezember 2009

Wie ist eine Wissenschaftstheorie der Ingenieurwissenschaft möglich?

Wie ist eine Wissenschaftstheorie der Ingenieurwissenschaft möglich? (Is a Philosophy of Science of Engineering feasible?)

Lieber Herr Assmann,

in meinem letzten Blog über „Präskriptive Modelle“ deutete ich schon an, dass ich in einem Nachfolge-Blog das Thema „Wissenschaftstheorie der Ingenieurwissenschaft“ (Philosophy of Science of Engineering) behandeln möchte. Ich darf zunächst kurz aus dem letzten Blog wiederholen, dass die praktischen Modalität der Erreichbarkeit (Err A) eingespannt wird zwischen der theoretischen Modalität des Gebotes (Δ! A) und der theoretischen Modalität der Möglichkeit (∇ A). Err A bedeutet: : Es wird behauptet, dass der Sachverhalt, der durch A beschrieben und dargestellt wird, erreichbar ist. Es gelten die modallogischen Schlüsse:

Δ! A → Err A → ∇ A

In Worten: Was geboten ist, ist auch erreichbar, und was erreichbar ist, ist auch möglich. Natürlich gilt auch die Transitivität: Was geboten ist, ist auch möglich.

Ingenieurwissenschaftler konzentrieren sich nach einer Spezifikation von A als Modell und Δ! A als dessen Präskription auf den modallogischen Übergang zur Erreichbarkeit (Err A) , wobei sie sich bewusst sind , dass mit Err A auch ein Übergang zu ∇A zwingend ist. Unmögliches soll man nicht zu erreichen versuchen.

Was konstituiert nun Err A? Oder in anderen Worten: Was bestimmt Err A?
  1. Die Idee (oder auch der Einfall)
  2. Die Beschreibung und Bereitstellung von Mitteln, um A erreichen zu können.
Zu 1) Es gibt zwei Fälle:
  • 1.Fall: Nichts Neues wird verlangt für Err A. Man sagt, alles ist Routine und geschieht aus oder nach Erfahrung. 
  • 2. Fall: Es wird eine Idee für das Neue verlangt. Es muss, so würde man heute sagen, etwas Kreatives geschehen. 
Wie kommt man zu diesem Neuen? Ich bringe jetzt ich ein Zitat, das mich selbst vor Jahren schon überrascht hat. Der Arbeiterführer, Gewerkschafter und Ex- Bundesarbeitsminister Walter Riester („Riester Rente“, kennt jeder) erzählt in einem Aufsatz „ Die Zukunft der Arbeit -Die neue Rolle der Gewerkschaften“ (in: „Arbeit der Zukunft, Zukunft der Arbeit“, Herrhausen Gesellschaft, Poeschel Verlag 1994) über eine Vorlesungen in Frankfurt bei W. Adorno. Riester gibt zu, dass er Adorno wenig verstanden hat, als er die berühmten Kant’sche Zentralfrage behandelte“ Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?“ Adorno erklärte, so Riester, die Kant‘sche Frage durch Umformulieren, indem er moderner sagte: “Wie ist Neues überhaupt möglich?“ Nun, Riester und Adorno sind sicherlich keine Ingenieur - Kompetenzen. Aber im Prinzip richtig gesehen hat Adorno den Kant‘schen Satz schon.

Auch wir müssen, wie Adorno, eine Umformulierung vornehmen. Ingenieure sagen statt „synthetisch“ (gr.) sinngleich „konstruktiv“ (lat.). Der Ausdruck „Synthetisches Urteil“ ist in Ingenieursprache eine Konstruktion. A priori heißt bei Kant „jenseits der Erfahrung“ oder „abgesetzt von der Erfahrung“, auf die wir im 1. Falle nicht verzichten konnten. Die Konstruktion, das neu Zusammengesetze (wörtlich) ist das Neue, das abgesetzt von der Erfahrung als Idee, als Einfall zustande kommen soll. Wir müssen den Satz zunächst mal als Empfehlung auffassen. Kant sagt uns, dass wir uns von der Erfahrung lösen müssen, um zum Neuen vorzustoßen. Viele befolgen den Kant‘schen Satz in der Ingenieurfassung, wenn sie schöpferisch arbeiten wollen und eine geradezu panische Angst haben, in den Trott einer Erfahrung zu gelangen, von der Ältere schwärmen, weshalb sie ja auch nicht mehr schöpferisch sind. Schön, wenn diese „Erfahrungsgiganten“, das ist eine Anerkennung, das auch merken.
   
Zu 2) Mittel zu konzipieren, zu beschreiben und bereitzustellen ist ein bekanntes Ingenieurthema und soll deshalb hier nicht behandelt werden. Wichtig aber ist die Feststellung, dass Err A in der modallogischen Kette iteriert wird, wie die Informatiker für Wiederholen sagen. Es gibt also für Err A beliebig viele Unterketten und das führt uns auf ein Zentralproblem des „Engineering“: das Zerlegen. „How to decompose systems into modules“ war der Titel eines bekannten Aufsatzes meines berühmten Darmstädter Kollegen David Parnas in den 70ger Jahren. Damals war der Aufsatz sehr beindruckend, und heute ist er es auch noch.

Man sieht an der obigen Darstellung, dass eine Wissenschaftstheorie der Ingenieurwissenschaften auf Logik basiert. Wittgenstein wäre über diesen Satz sehr befriedigt. weil er der Auffassung war: „Außerhalb der Logik ist alles Zufall“ (Tractatus 6.3). Nun gut, das mag dahingestellt werden. Wenn aber ein Ingenieur-Präsident einer Technischen Universität unter Zeugen sagt „Logik brauchen wir nicht“, dann ist das tieftraurig und man sieht wie viel wissenschaftstheoretische Arbeit im Ingenieurbereich noch zu leisten ist.

Viel Grüße

Ihr H. Wedekind

PS.: Der Satz „ Δ! A → Err A hat in seiner klassischen Kontraposition eine berühmte Entsprechung, auf die schon Paul Lorenzen hingewiesen hat. Kontraponiert heißt der Satz: ¬ Err A → ¬ Δ! A , oder : Über seine Fähigkeiten darf niemand verpflichtet werden. Die römischen Richter sagten: „ Ultra posse, nemo obligatur“. Das alte Rechtsprinzip ist übrigens der Grundsatz der heute angefeindeten Hartz IV Gesetzgebung. Der Antragsteller muss ein „non possum“ (ich kann nicht) nachweisen.

Hartmut Wedekind Fichtestr.34 64285 Darmstadt Tel.: (06151) 44584

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